Eine unglaubliche Motorradtour quer durch die Alpen – TEIL 1
Prolog
„Hand drauf?“
Ein erwartungsfrohes Gesicht schaut mich an. Ich sitze auf meiner Terrasse, an einem milden Nachmitttag im Sommer 2022. Ich blicke auf die Hand vor mir und in eine nicht allzuferne Zukunft.
Vor meinem geistigen Auge erstreckt sich das größte Motorradabenteuer meines Lebens. 1.500 Meilen durch die Alpen. Die Distanz alleine breitet sich in meiner Magengegend so wohlwollend aus wie ein Hefeteig, der in seiner Schüssel zu lange auf der Heizung gestanden hatte.
Gefühlt hatte ich das Motorradfahren schon an den Nagel gehängt. Bereits vor der Geburt des ersten Kindes waren es immer nur kurze Spritztouren gewesen, die ich mir gegönnt hatte, um nicht völlig aus der Übung zu kommen, und natürlich um die Batterie meiner Ducati am Leben zu halten. Mit dem ersten und spätestens dem zweiten Kind war die Hypermotard aber so gut wie abgemeldet. Nicht mal einen ganzen Tank hatte ich in den letzten beiden Jahren verfahren. Die Betriebskosten waren nichts gegen das, was im Verhältnis dazu für Steuern und Versicherung draufging. Plötzlich wer einfach keine Zeit mehr für dieses Hobby. Die Luft war raus. Andere Zweiräder hatten das Ruder übernommen: ein Lastenrad für den Weg zum Kindergarten und zum Einkaufen, und ein Rennrad, um was gegen die Autofahrerfigur zu unternehmen. Dazu kam das Verantwortungsgefühl: als Familienvater war Motorradfahren natürlich noch gefährlicher als früher.
Jetzt sollten es mit einem Mal 1.500 Meilen sein, die ich auf dem Bock verbringen würde. Umgerechnet 2.400 km. Eine gigantische Distanz, abzufahren an 6 Tagen, aber eben nicht etwa durchs norddeutsche Flachland, sondern über die Alpen, mit all den gewunden Strassen, den Steigungen und Gefällen, Pässen, Spitzkehren und Haarnadelkurven. Technisch anspruchsvoller könnte sich diese Achterbahnfahrt für meine bescheidenen Fähigkeiten gar nicht gestalten.
Die Hand, die sich mir an diesem Sommertag erwartungsfroh entgegenstreckte, war übrigens die von Dr. Peter Sommer, meinem sehr geschätzten Freund und ehemaligen Nachbarn aus der Düsseldorfer Carlstadt. Mit ihm habe ich jahrelang vor der Haustür nicht nur angeregte Gespräche über Armbanduhren, Autos und andere Dinge des täglichen Bedarfs geführt, sondern auch über Motorräder. Wir teilten uns einen Garagenstellplatz, in dem meine Ducati und seine Moto Guzzi ihrerseits Nachbarinnen waren.
Noch vor der Pandemie hatte Peter – seine Augen leuchten noch heute, wenn er davon erzählt – an einer Motorrad-Rally durch das Vereinigte Königreich teilgenommen. Ausrichter war ein Londoner Produzent von Motorradbekleidung und -taschen: Malle. Nicht das Malle, dass wir mit Mallorca verbinden, sondern das französische Wort für einen großen Koffer, malle. So der Markenname des Unternehmens: Malle London, um genau zu sein.
Peter war also unterwegs gewesen, mit diesen Menschen, die irgendwann mal aus Jux und Dollerei eine Rally organisiert hatten, ein Abenteuer auf zwei Rädern, die Great Malle Rally, von Südengland nach Nordschottland.
„Das Beste, was mir auf zwei Rädern je passiert ist“, hörte ich ihn nach seiner Rückkehr sagen. Und dass er unbedingt wieder dabei sein wollte. Egal ob erneut in Großbritannien, oder aber, andächtige Pause, bei der ersten Malle-Tour in Kontinentaleuropa, und zwar durch die ALPEN! Diese Königsdisziplin für jeden Biker sollte wohl in den kommenden Jahren stattfinden, so jedenfalls das Gerücht im Fahrerlager.
Als er mir das damals erzählte, klingelten bei mir die Alarmsirenen. Eine Alpentour stand schon immer auf meiner ‚Bucket-List‘. Aber wie eingangs erwähnt: Motorradfahren kam mir in letzter Zeit so häufig unter wie ein Diskobesuch, also hatte ich das Thema im Geiste schon begraben.
Jetzt aber war es soweit. Die Mountain Rally würde dieses Jahr stattfinden. Ich schaute auf Peters ausgestreckte Hand, in die ich nur einschlagen musste, um diesem Traum wieder Leben einzuhauchen.
Meine Gedanken rotierten. Die anspruchsvollen Strecken. Die Gefahren in den Alpen. Frau und Kinder für über eine Woche verlassen. Übernachten im Zelt (Camping: mein persönlicher Endgegner). Und was war mit meiner fahrerischen Fitness? In der kurzen Zeit bis zum Start würde ich niemals die Fähigkeiten und die Sicherheiten auf dem Motorrad wiedererlangen, die laut Veranstalter Voraussetzung dafür wären, diese körperlich anspruchsvolle Tour absolvieren zu können.
Die andere Seite meines Hirns hatte während all der Schwarzmalerei nur ein einziges Argument parat: just do it.
Also schloss ich die Augen. Und schlug ein.
Die Vorbereitung
Peter fuhr zufrieden nach Hause. In seinen Augen war ich der perfekte Kompagnon, während mir klar wurde, dass ich mich auf etwas eingelassen hatte, auf das ich ganz und gar nicht vorbereitet war. Natürlich machte sich echte Vorfreude breit, aber auch erste Bedenken. Es folgten unruhige Nächte. Vor’m Einschlafen dachte ich tagelang nur noch daran, wie das alles funktionieren sollte, auf all den Alpenpässen, die sich vor uns aufbauten. Also setzte ich mich vor den Laptop und klickte mich durch YouTube-Videos:
Kurvenfahren leicht gemacht. Vermeide diese Anfängerfehler!
Die gefährlichsten Pässe der Welt.
Top 5 Motorrad Unfälle in den Alpen.
Dort wurde einem erklärt, wie man Berge heil hoch und wieder runter kommt. Wie man Serpentinen meistert. Wie man sich und das Motorrad derart in eine Haarnadelkurve hinein und wieder heraus bewegt, dass man a) nicht in den Gegenverkehr steuert und tödlich verunglückt oder b) nicht den Abhang runterstürzt und … tödlich verunglückt.
Unfälle waren einige dabei, in diesen Videos, die in den engen Kurven wie denen des Stilfser Jochs gang und gäbe sind. Umfaller mit überladenen Adventure-Bikes am Rande eines Abgrunds, und Missgeschicke beim Einbremsen vor dem Scheitelpunkt die unweigerlich zu einem Sturz führten.
Mir ging ein wenig die Düse.
Dabei musste ich mich eigentlich um andere Dinge kümmern. Zuallererst um ein Motorrad. Meine Ducati war konstruktionsbedingt zwar gut für eine knackige Feierabendrunde durchs Bergische Land, aber nicht unbedingt für diese epische Tour. Mit ihr wäre ich vielleicht bis nach Montabaur gekommen, oder Limburg. Dazu kam, dass die Great Malle Mountain Rally eigentlich nach „inappropriate motorcycles“ verlangte, also nach Motorrädern, die nicht zwangsläufig gemacht sein müssen, für eine solche Tour, nach Klassikern mit Chrom-Tanks und runden Scheinwerfern. Motorräder mit Stil also. Andererseits gab es keine Tabus. Alles war erlaubt, selbst eine Vespa. Es schwang der olympische Geist mit: Dabei sein ist alles. Style wäre von Vorteil. Aber verboten war auf der anderen Seite nix.
Das war quasi mein Rettungsanker, denn so gern ich dort als motorisierter Hipster mit Flanellhemd, gewachster Hose und Vollbart aufgetaucht wäre, um Teil des Malle Instagram Feeds zu werde: mir ging es um Sicherheit. Ums Ankommen. Und um Langstreckenkomfort. Andernfalls wäre das ein Himmelfahrtskommando geworden. Also entschied ich mich für einen Anruf bei den netten Menschen von BMW Motorrad in München. Dort war man bereit, mir auszuhelfen, und zwar mit einer F 850 GS und dem passenden Zusatz Adventure. Ein modernes Bike, ohne Chrom, dafür mit viel Kunststoffverkleidung und allen relevanten Sicherheitsfeatures, gemacht auch für groß gewachsene Fahrer. Das gab meiner geplagten Seele, die sich schon ohne Windschutz auf einer viel zu kleinen Maschine Kilometer fressen sah, ein wenig Frieden.
Dann kam das Thema Ausrüstung und die Stunde weiterer Unterstützer. Die Firmen Touratech, Held und Sena halfen mir freundlicherweise spontan mit Material aus. Nicht, dass ich nicht bereits Ausrüstung dieser Art besaß – aber für eine Alpentour war mein vorhandenes Equipment nicht geeignet. So konnte ich auf einen neuen Helm zählen, auf Funktionsunterwäsche und einen Schutzanzug (jeweils Touratech), auf wasserdichte Handschuhe und Stiefel (Held) sowie eine Interkom für meinen und den Helm von Peter (Sena). Einige der Produkte durfte ich behalten, das muss an dieser Stelle gesagt und mit Werbung gekennzeichnet werden. Meine Ansprechpartner bei den Firmen waren sehr kooperativ und mein Dank gilt allen, die mich so schnell unterstützt haben.
Wie sich später herausstellte, war ich gut damit beraten, auf Gore Tex und Co. zu setzen.
Abfahrt ins Ungewisse
Sonntag, 11. September. Mit einem Mietwagen und gut gefüllten, wasserdichter Taschen, fuhr ich früh morgens von Düsseldorf aus nach Garching bei München. Dort angekommen übernahm ich die Maschine der BMW Motorrad Presseabteilung und sah mich sofort mit meinem ersten Fehler konfrontiert: ich hatte zuviel Gepäck dabei. Im Kofferraum des Audi A6 wirkte all das sehr überschaubar. Nachdem ich aber die drei Taschen (ein Tankrucksack war schon montiert) an der Maschine verzurrt hatte, nahm ich zähneknirschend zur Kenntnis, dass ein Drittel der Mitbringsel besser zu Hause geblieben wäre. So oder so, jetzt war es zu spät, all das Extragewicht einfach liegen zu lassen. Ich hatte gemeinsam mit Peter ein Ziel vor Augen, dass es vor Einburch der Dämmerung zu erreichen galt: Innsbruck. Startort der Great Malle Mountain Rally.
Ich legte den Tour-Talisman (made by #werbung# 877 Workshop) – eine Kette mit Christophorus Emblem, dem Schutzheiligen der Reisenden – um meinen Hals. Dann schickte ich eine letzte Instagram Story zu meinem Gemüts- und dem Beladungszustand der BMW ins Netz und machte mich auf, um den Doktor zu treffen, der mit seiner Moto Guzzi V 85 TT von Düsseldorf über Stuttgart nach München gereist war.
Ein schnelles High-Five später waren wir unterwegs, zum ersten Mal seit langer Zeit wieder gemeinsam, in Richtung Süden. Schon auf Höhe des Tegernsees begrüßte uns der erste Regenschauer. Ich schlüpfte in die zweite, wasserdichte Haut des Touratech Anzugs und ließ die Witterungseinflüssen draussen, auch die Handschuhe und Stiefel von Held schützten schon jetzt effektiv. Es blieb alles trocken, trotz intensiver werdendem Niederschlag. Jetzt hiess es nur, auf dem Bike sitzen zu bleiben und die restliche Zeit bis ans Ziel cool zu bleiben. Die BMW schnurrte vor sich hin, das große Abenteuer stand vor der Tür und der Startort der großen Rally, Schloss Friedberg rückte immer näher.
„Gesprächsfetzen, Wiedersehensfreude von Rallyveteranen, und das glücklose Surren zigfacher Start-Versuche lagen in der Luft.“
Als wir ankamen, blinzelten noch ein paar Sonnenstrahlen aufs Innsbrucker Land und vor Ort herrschte bereits reges Treiben. Viele der Rallyteilnehmer hatten ihre Motorräder auf einer großen Kiesfläche abgestellt. Britischer Akzent lag in der Luft, Mitarbeiter des Malle Event-Teams wiesen die Neuankömmlinge ein. Wir waren begeistert. Ich sah belgische Kennzeichen, viele britische natürlich, aber auch maltesische. Da stand ein Franzose an seiner großen Boxer-GS neben diversen Royal Enfield Interceptor. Dazu viele Modelle von Triumph und natürlich die obligatorischen Retro BMWs. Peters Guzzi war die einzige ihrer Art, daneben war noch ein deutscher Teilnehmer auf seiner V7. Zwei Husqvarna Norden standen wie Zwillinge nebeneinander.
Es wummerte und brummte. Es roch nach Abgasen. Gesprächsfetzen, Wiedersehensfreude von Rallyveteranen, und das glücklose Surren zigfacher Start-Versuche lagen in der Luft: eine Harley Davidson versagte jetzt schon ihren Dienst. Der Mitarbeiter des Werkstattwagens war sichtlich bemüht, sie wiederzubeleben, legte all sein Gewicht auf den Kickstarter, aber nix passierte. Bis, ein paar Einstellschraubendrehungen später, der Motor wieder ansprang und der Auspuff der Maschine einen Höllenlärm verursachte. Es ging zu wie in einem Wimmelbild zweiradmotorisierter Glückseligkeit, die ihre Fortsetzung an der Anmeldung fand. Dort gab es Kaffee, Tee und Gebäck. Ein paar Dokumente mussten unterschrieben werden, Teilnehmertrikots wurden mit Startnummern beflockt, wir erhielten Aufkleber, eine Wasserflasche, ein Mikrofaserhandtuch sowie das rote Roadbook, das die Stempel und Zeiten beherbergen würde, die es an all den Checkpoints einzusammeln galt. Während ich mich noch orientieren musste, war Peter ganz in seinem Element, grüßte alte Weggefährten, hielt smalltalk und fand zielstrebig den Weg zu unserem Zelt, der Nummer 14. Es lag am Ende des Camping-Areals, mit Blick aufs Innsbrucker Bergmassiv, am abschüssigen Teil einer großen Wiese.
‚Wird schon schiefgehen!‘ raunte Phil, so oder so ähnlich, auf englisch, beim Blick auf den nicht gerade horizontal verlaufenden Zeltboden. Phil, nicht mehr der jüngste, war der Dritte in unserer Camping-WG und entpuppte sich im Verlauf mal als früher Schläfer, mal als Draufgänger, der bis zum letzten Absacker blieb. Peter hatte zwischenzeitlich, wie er es in den kommenden Etappen immer wieder tun würde, eine Düsseldorf Flagge am Eingang montiert. „So erkennen wir’s zwischen all den anderen Zelten jedes Mal auf Anhieb“, lautete seine Begründung. Mit Profis arbeiten lohnt sich.
Etwas später versammelten sich alle Anwesenden im Inneren des charismatischen Schlosses, das auch als schicke Burg durchgegangen wäre. Nach dem gemeinsamen Dinner folgte eine längere Ansprache durch Robert Nightingale zur Idee und der Motivation hinter den Malle Rallys. „It’s a cornering masterclass“ sagt er voller Bewunderung über die kommenden Tage in den Alpen. Aber auch Sicherheitshinweise werden genannt, schliesslich sollten alle ohne Blesssuren am Ziel in Nizza ankommen. Robert, Kopf und Stimme von Malle London, war Dreh-und Angelpunkt dieser Rally, die er im Verbund mit ein paar sympathischen Lads auf die Beine gestellt hatte. In einer großen Vorstellungsrunde lud er dann jeden und jede noch dazu ein, etwas über sich erzählen. Dann kam es zur Einteilung in Teams.
Peter und ich gesellten sich zu unseren neuen Mitfahrern. Da war James, ein Brite, der mit seiner Vintage R 80 GS Dakar Edition angereist war. Alan und Adrian, Vater und Sohn, kamen aus Frankreich, auf einer moderner GS Adventure und einer Yamaha Teneré. Last but not least zwei Damen aus Malta, Gorana und Alexandra, auf R nineT Urban GS und BMW F 750 GS. Ein Team-Name war schnell gefunden: the Maltesers, ein Mix aus Malta und den gleichnamigen Schokokugeln. Wir würden eine Einheit bilden und aufeinander aufpassen, auf den kommenden 1.500 Meilen durch sechs verschiedene Länder.
Morgen würde es losgehen. Es lag nur noch ein gemeinsamer Drink am Lagerfeuer dazwischen, ein Blick in den sternenklaren Himmel, ein kurzer Anruf nach Hause und eine eiskalte Nacht im Zelt.
Die Rally
… folgt in Teil 2.